Thema des Monats Februar:

Familienaufstellung verstehen, Teil 3:
Die Bedeutung der Ordnung – Geben und Nehmen

Bert Hellinger greift immer wieder auf das für menschliche Beziehungen sehr grundlegende Zusammenspiel von Geben und Nehmen zurück. Ein anderer in diesem Zusammenhang vielfach genutzter Begriff ist der des Ausgleichs. Die schlichte Logik lautet zunächst: In menschlichen und damit auch in familiären Beziehungen ist ein Ausgleich von Geben und Nehmen für das Fortbestehen der Beziehung und auch für die Lebensfähigkeit der Individuen essenziell. Dauerhaft unausgeglichene Beziehungen, in denen eine*r mehr oder nur gibt, während der*die andere mehr oder nur nimmt, werden als ungesund und bedrohlich nicht nur für die Beziehung, sondern auch für die Spielräume der Lebensgestaltung für die*den Einzelnen angesehen. Durch nicht erfolgten Ausgleich entstehen nach dieser Sichtweise Bindungen, die die Beteiligten so lange aneinanderbinden, bis der Ausgleich erfolgt ist. Der nicht erfolgte Ausgleich kann in Hellingers Konzept Einzelne oder ein Familiensystem über Generationen hinweg belasten. Wenn in der Familie jemand nicht das Angemessene zurückbekommen hat oder eine Schuld nicht beglichen wurde, bleibt dieser mangelnde Ausgleich im Familiensystem bestehen und es drängt dazu, diesen Ausgleich zu vollziehen. Das kann Familienangehörige späterer Generationen in alte Ausgleichsprozesse verstricken.

Bert Hellinger unterstellt allerdings zunächst eine positive Dynamik im Ausgleichsprozess von Geben und Nehmen, die – zumindest in vitalen und gesunden Beziehungen – deren Wachstum und Intensivierung befördert: „Der Austausch zwischen einem Paar beruht auf zwei Bedürfnissen. Das eine ist das Bedürfnis nach Ausgleich, das andere ist das Bedürfnis nach Liebe. Wenn also der eine Partner dem anderen etwas gibt mit Liebe, dann nimmt es der andere Partner. Weil er ein Bedürfnis nach Ausgleich hat, gibt der dem anderen etwas Gleichwertiges zurück. Weil er ihn aber auch liebt, gibt er ihm ein bisschen mehr zurück, als er von ihm bekommen hat. Beim anderen läuft dann das Gleiche ab. Er gibt zurück, aber aus Liebe ein bisschen mehr. So steigert sich durch die Verbindung der beiden Bedürfnisse nach Ausgleich und nach Liebe der Austausch und das Glück. Das ist das einfache Grundprinzip des Glücks“. (Hellinger 2007, 92)

Es ist eine Besonderheit in Hellingers Denken, dass er in sein Konzept des Ausgleichs von Geben und Nehmen den Begriff der „Schuld“ integriert: „eine zweite Art von Schuld (...) hat zu tun mit dem Ausgleich von Geben und Nehmen. Wenn ich also von jemandem etwas geschenkt bekomme, fühle ich mich ihm gegenüber in der Schuld. Das, was ich bekommen habe, lässt mir keine Ruhe, bis ich etwas Gleichwertiges zurückgebe“ (ebd., 80). Diese Schuld, wenn sie nicht beglichen wird, kann ein belastendes Ausmaß annehmen und auch das Fortbestehen der Beziehung unmöglich machen. Sie kann daran zerbrechen. Hellinger geht sogar soweit, einen Ausgleich auch „im Schlimmen“ für notwendig zu erklären: „Also nicht nur im Guten haben wir das Bedürfnis nach Ausgleich, sondern auch im Schlimmen. Wenn der eine den anderen verletzt, aus was für Gründen auch immer, dann hat der andere das Bedürfnis, ihn auch zu verletzen. Und er muss verletzen, sonst ist das Gleichgewicht gestört“. Aber Hellinger scheint am Sieg des Guten gelegen zu sein, denn er stellt fest: „Aber man verletzt dann mit Liebe, das heißt, man verletzt ein bisschen weniger als der andere. Dann kann der Austausch im Guten wieder beginnen. Das wären so kleine Geheimnisse für eine gelungene Paarbeziehung“ (ebd., 91).

Der Originalton der Aussagen Hellingers macht unseres Erachtens deutlich, dass hier ein normatives Denken leitend ist. Prinzipien, die in ihrer ursprünglichen Form durchaus Gültigkeit verlangen können, werden in diskussionswürdiger Weise weiter ausdeutet und auf spezifische Kontexte hin entfaltet, für die man den Allgemeingültigkeitsanspruchs des grundlegenden Prinzips nicht fraglos übernehmen kann.

Familienaufstellungen oder Aufstellungen von Paarbeziehungen, in denen diese und vergleichbare Annahmen die Wahrnehmung und Deutung des Erlebten leiten, werden darauf ausgerichtet sein, die Unausgewogenheit von Geben und Nehmen zu erkennen und als Lösungsweg die Wiederherstellung der Ordnung zu favorisieren.

Lesen Sie in den folgenden Monaten die Fortsetzungen dieser Reihe über
die Konzepte und Methoden der Familienaufstellung!

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