Thema des Monats März:

Familienaufstellung verstehen, Teil 4:
Die Bedeutung der Ordnung – Frühere und Spätere

Bert Hellinger stellt kurz und bündig fest, „dass die, die früher in dem System da waren, Vorrang haben vor denen, die später dazugekommen sind“. Damit haben die Eltern Vorrang vor den Kindern und bei den Geschwistern bestimmt die Reihenfolge der Geburt ihre Ordnung untereinander. Es ist nicht leicht herauszuarbeiten, welche Rechte und Pflichten mit dieser Ordnung einhergehen. Auf den ersten Blick erscheint es so, als ginge es vor allem darum, überhaupt eine normative Ordnung zu definieren, an der dann tatsächlich erlebte Familiensysteme gemessen werden können. Eine sehr typische Lösungsaufstellung im Familienstellen besteht genau darin, Eltern und Geschwister nebeneinander in genau dieser Ordnung aufzustellen: Vater und Mutter, dann folgend die Kinder in der Reihenfolge ihrer Geburt. Auf die Frage, ob und warum in der Regel der Vater zunächst, dann die Mutter links von ihm und dann die Kinder weiter links folgend aufgestellt werden, wollen wir an dieser Stelle nicht eingehen. Hier können sich auch Stereotype und Vorurteile über das Geschlechterverhältnis und über Geschwisterbeziehungen eingeschlichen haben. Das zu erörtern, würde hier zu viel Raum einnehmen.

Viele Menschen, die so eine Aufstellung mitmachen, zeigen sich beeindruckt von der Klarheit dieser Logik und es entspannt und beruhigt sie, zu sehen, wie die Beziehungen „wirklich“ sind. Hellinger geht es stets um die Anerkennung von etwas, das für die Beziehungen entscheidend ist. Hier geht es ihm darum anzuerkennen, dass die Eltern vorher da waren und dass das Leben der Kinder von ihnen ausgeht. Und auch unter den Geschwistern ist anzuerkennen, wer älter und wer jünger ist. Wenn ein Jüngerer sich verhält als wäre er ein Älterer, missachtet er diese Ordnung. Wenig systematisch wird allerdings darüber reflektiert, im Hinblick worauf es wichtig ist, diese Ordnung zu beachten. Darf der Jüngere nicht klüger, schöner, beliebter, zufriedener oder sonst etwas sein als der Ältere? Worum also geht es bei diesem Prinzip? Wozu dient es?

Einerseits findet man bei vielen Autoren die Darstellung, es gehe bei diesem Ordnungsprinzip des Vorrangs des Früheren vor dem Späteren nur darum, jeder und jedem die ihr oder ihm zustehende Rechte zu gewähren. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Und wer sich vordrängelt, missachtet die Ordnung und verursacht Konflikte. Darum sollte es die Regel geben und es sollte jemand darüber wachen, dass sie auch beachtet wird. Das verhindert Konflikte.

Insgesamt wird unterstellt, dass die Früheren frühere Ansprüche haben und dass deren Erfüllung auch Vorrang hat. Die Späteren haben mit ihren Ansprüchen dahinter zurückzustehen. Bei Hellinger klingt es allerdings vielfach doch nach etwas mehr als einer nur pragmatischen Spielregel für ein konfliktfreies Miteinander.

Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern geht es ihm im Kern darum, dass die Kinder anerkennen und dankbar annehmen, dass sie das Leben durch die Eltern erhalten haben. Sie können das nur annehmen und sie können es den Eltern nicht zurückgeben. Sie können es nur weitergeben. Sie müssen es nach Hellinger aber auch annehmen, um frei zu sein. Der Ausgleich geschieht dann generationenübergreifend. Wenn jemandem nicht klar ist, wer sein Vater oder seine Mutter ist, so findet diese Bewegung ihr Ziel nicht und hält ihn gefangen. Wenn er sich dauerhaft den Eltern gegenüber schuldig fühlt, findet er aus der Bindung nicht heraus und kann keine eigene Partnerschaft und Familie eingehen. Wenn er den Eltern den Dank für das Geschenk des Lebens versagt und ihnen Vorhaltungen über dies und jenes macht, kommt er – trotz der manifesten Abgrenzung – paradoxerweise ebenfalls aus der Bindung nicht heraus.

Auch in anderer Weise bringt Hellinger den Vorrang der Früheren vor den Späteren mit dem Prinzip von Geben und Nehmen, mit dem Ausgleich und der Schuld in Verbindung: „Ein Späterer ist bereit, für einen Früheren zu sterben, wenn er meint, dass er damit dessen Tod verhindern kann. Oder er ist bereit, für die unerledigte Schuld eines Früheren zu sühnen. Oder eine Tochter vertritt die frühere Frau ihres Vaters und verhält sich zum Vater wie seine Partnerin und zur Mutter wie eine Rivalin“ (ebd., 235). Das alles klingt nach deutlich mehr und schwerwiegender als pragmatische Regeln für ein friedvolles Miteinander.

Hellinger definiert aber noch weiterreichende Vorrangregeln: Der Chronologie von später und früher folgend legt er den Vorrang der Paarbeziehung vor dem Elternsein fest und auch den Vorrang einer älteren Paarbeziehung vor einer neuen, wenn jemand sich trennt und mit jemand anderem eine Partnerschaft eingeht. Soweit gilt: Zuerst kommen die früheren, dann die späteren Verbindungen. Anders ist es beim Vorrang eines neuen Familiensystems vor den älteren Systemen. Wer eine eigene Familie gründet, löst sich (wenn es gut geht) von seiner Ursprungsfamilie. Für die neue Familie besteht der Vorrang vor den Herkunftsfamilien der Eltern.

Es ist eine Besonderheit in Hellingers Denken, dass er in sein Konzept des Ausgleichs von Geben und Nehmen den Begriff der „Schuld“ integriert: „eine zweite Art von Schuld (...) hat zu tun mit dem Ausgleich von Geben und Nehmen. Wenn ich also von jemandem etwas geschenkt bekomme, fühle ich mich ihm gegenüber in der Schuld. Das, was ich bekommen habe, lässt mir keine Ruhe, bis ich etwas Gleichwertiges zurückgebe“ (ebd., 80). Diese Schuld, wenn sie nicht beglichen wird, kann ein belastendes Ausmaß annehmen und auch das Fortbestehen der Beziehung unmöglich machen. Sie kann daran zerbrechen. Hellinger geht sogar soweit, einen Ausgleich auch „im Schlimmen“ für notwendig zu erklären: „Also nicht nur im Guten haben wir das Bedürfnis nach Ausgleich, sondern auch im Schlimmen. Wenn der eine den anderen verletzt, aus was für Gründen auch immer, dann hat der andere das Bedürfnis, ihn auch zu verletzen. Und er muss verletzen, sonst ist das Gleichgewicht gestört“. Aber Hellinger scheint am Sieg des Guten gelegen zu sein, denn er stellt fest: „Aber man verletzt dann mit Liebe, das heißt, man verletzt ein bisschen weniger als der andere. Dann kann der Austausch im Guten wieder beginnen. Das wären so kleine Geheimnisse für eine gelungene Paarbeziehung“ (ebd., 91).

Der Originalton der Aussagen Hellingers macht unseres Erachtens deutlich, dass hier ein normatives Denken leitend ist. Prinzipien, die in ihrer ursprünglichen Form durchaus Gültigkeit verlangen können, werden in diskussionswürdiger Weise weiter ausdeutet und auf spezifische Kontexte hin entfaltet, für die man den Allgemeingültigkeitsanspruchs des grundlegenden Prinzips nicht fraglos übernehmen kann.

Familienaufstellungen oder Aufstellungen von Paarbeziehungen, in denen diese und vergleichbare Annahmen die Wahrnehmung und Deutung des Erlebten leiten, werden darauf ausgerichtet sein, die Unausgewogenheit von Geben und Nehmen zu erkennen und als Lösungsweg die Wiederherstellung der Ordnung zu favorisieren.

Lesen Sie in den folgenden Monaten die Fortsetzungen dieser Reihe über
die Konzepte und Methoden der Familienaufstellung!

 

Und vertiefen Sie Ihr Wissen:

Tapken, A. & Wübbelmann, K. 2021. Aufstellungsarbeit in Organisationen. Verlag Vahlen

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