Thema des Monats September:

Das Kind im toten Winkel

Diese Aussage hat uns sehr berührt: „Ich weiß nicht, ich muss mich da wohl ganz weit in den toten Winkel zurückgezogen haben.“ Es geht um eine Schwangerschaft, eine Zwillingsschwangerschaft, die nicht als solche erkannt worden war. Die Mutter erwartete ein Kind, nicht zwei. Und erst bei der Geburt war der zweite Sohn plötzlich da. Niemand hat ihn vorher bemerkt. Die Schwangerschaft liegt viele Jahre zurück, die pränatale Diagnostik war nicht auf dem heutigen Stand. Vielleicht hätte man es sehen können, aber niemand hat es gesehen, dieses zweite Kind, das nun, als Erwachsener, von sich selbst sagt: Ich saß im Bauch meiner Mutter im toten Winkel.

Ein solcher Anfang kann die ganze Lebens- und Beziehungsgeschichte prägen: Im Verborgenen leben, nicht erwartet werden, nicht so ganz dazugehören, niemandem zur Last fallen wollen, sich nicht wichtig nehmen ... viele Grundhaltungen dem Leben gegenüber und viele Beziehungsmuster können daraus entstehen.

Die Beziehung zur Mutter, zu den Eltern ist eine sehr prägende Grundlage für die Beziehungsmuster in den wichtigen späteren Lebensbeziehungen. Das beginnt schon in der Schwangerschaft, lange bevor Bewusstsein und Selbstbewusstsein entstehen. Das Kind im toten Winkel ist ein sehr starkes Bild dafür!

Für jeden von uns ist es wichtig, gesehen, gewollt, erwartet und gewürdigt zu werden. Anerkannt als jemand, der da ist und dazugehört. Diese Überzeugung zählt zu den Grundfesten der Familienaufstellung. Bert Hellinger hat diesen Punkt zum zentralen Element seiner Arbeit gemacht. Die Frage danach, wer alles zu einem Familiensystem dazu gehört und das in den Blick nehmen der nicht Zugelassenen und Ausgestoßenen, der Vergessenen, Verschwiegenen und Verdrängten, die in der Familie ihren Platz nicht bekamen oder bekommen, ist Kern der Arbeit in der Familienaufstellung.

Besonders wichtig ist diese Arbeit für diejenigen, die nicht angemessen anerkannt und gesehen werden. Für sie kann eine Aufstellung hilfreich sein, um zu erkennen, wie sie sich auch selbst eingerichtet haben, im „toten Winkel“. Oft haben sie sich daran gewöhnt, im Hintergrund zu bleiben, sich nicht so wichtig zu nehmen, auf die Wahrnehmung ihrer Rechte zu verzichten. Sie gestatten sich nicht, sich anderen zuzumuten, auch wenn sie gerade nicht in guter Verfassung sind.

Stück für Stück können sie sich herausarbeiten, aus dieser übernommenen Verborgenheit, in der sie sich wohl oder übel eingerichtet haben und die sich schon ganz normal anfühlt. Oft wird im Zuge der Aufstellungsarbeit und in den Reflexionen, die sich danach entwickeln, sichtbar, wie tief die Einrichtung im toten Winkel in allen Lebensbereichen ihre Spuren hinterlässt. Dann ist es richtig schwer, erst einmal zu erkennen, wie prägend dieses Grundmuster des Lebens eigentlich bis ins hohe Erwachsenenalter sein kann.

Die Selbsterkenntnis und die Botschaft an andere in diesem Befreiungsprozess lautet: „Seht her, ich bin da – und hier ist mein Platz und mein Raum.“ Dann kann die Befreiung und die Selbstbehauptung beginnen, auf die jede*r einen Anspruch hat.

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