Thema des Monats April:

Familienaufstellung verstehen, Teil 5:
Gewissen und Seele als Wächter der Ordnung

Die Begriffe „Gewissen“ und „Seele“ sind für Hellingers Verständnis von Familien von sehr grundlegender Bedeutung. Sie sind für ihn das, was die Familie im Innersten zusammenhält: „Die Familie hat eine gemeinsame Seele und ein gemeinsames Gewissen. Diese Seele und dieses Gewissen achten auf drei Grundordnungen“. Mit diesen Grundordnungen sind die drei hier beschriebenen Prinzipien genannt: Erstens die Zugehörigkeit, zweitens das mit ihr verbundene Recht auf Zugehörigkeit und drittens der Vorrang derjenigen im System, die früher da waren, vor denjenigen, die später dazu kamen. Seele und Gewissen sind in Hellingers Vorstellung nicht etwas, das das Individuum hat, sondern etwas, an dem es teilhat. Es geht ihm voraus, ist ebenso vor ihm wie über ihm und steht nicht in seiner Verfügungsgewalt. Alles was wir als Menschen tun können, ist uns diesem Gewissen anzuvertrauen und den Ordnungen, über die es wacht, sowie den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zu folgen. Tun wir das nicht, fallen wir aus dem Zusammenhalt unseres Familiensystems heraus.

Das Gewissen oder die Seele in Hellingers Verständnis sind auch die Größen, mit denen sich Stellvertreter*innen in Familienaufstellungen verbinden und über die es ihnen möglich ist, Dinge zu wissen und auszudrücken, über die sie außerhalb der Aufstellung nichts wissen. Er weigert sich, hier weiter nachzufragen und fürchtet, Aufstellungen durch eine zu investigative Herangehensweise ihrer Kraft zu berauben: „In den Familienaufstellungen wirken Kräfte, die wir nicht verstehen. Also, ich verstehe sie nicht. […] ich spüre, wenn ich mich näher damit befassen wollte, würde es meiner Arbeit Kraft wegnehmen. Ich würde dann Geheimnisse durch Erklärungen lüften wollen, obwohl auch diese geheimnisvoll bleiben“.

Erneut treffen wir hier auf sehr weitreichende Konzepte und Vorstellungen, die schwer zu greifen sind, deren empirische Verankerung laut Hellinger allenfalls in einer gegenseitigen Versicherung ihrer Existenz, nicht aber in faktischen, objektivierbaren Belegen zu finden ist. Auch wenn wir das im Rahmen dieses Buches nicht vertiefen, so weisen wir doch ausdrücklich darauf hin, dass wir Hellingers Rekurs auf Geheimnisse, die besser nicht untersucht und gelüftet werden, nicht teilen. Im Gegenteil: Wir halten es für äußerst sinnvoll, die Wirkprinzipien in Aufstellungen zu untersuchen. Als wenig hilfreich erachten wir Erklärungsansätze, die vor allem esoterische Konzepte bemühen und den Eindruck, man habe es in Aufstellungen mit geheimnisvollen Vorgängen zu tun, eher noch verstärken. Man wird sicherlich Hellinger auch Recht geben dürfen, dass nicht alles, was wir erleben und wahrnehmen, immer schon eindeutig, geschweige denn monokausal erklärt werden kann. Dennoch liegen schon seit geraumer Zeit verschiedene Studien vor, die Phänomene in Aufstellungen, wie beispielsweise die repräsentative Wahrnehmung, sehr nachvollziehbar erklären. Dazu zählen unter anderem die Studien zur neurobiologischen Grundlage von Empathie mit ihrer Entdeckung der sogenannten 'Spiegelneuronen' oder auch die Untersuchungen über das Raumempfinden in Aufstellungen, die darauf verweisen, dass es eine auf der Wahrnehmung von Körpern im Raum basierende allgemeingültige, nichtverbale Sprache gibt, die unabhängig von Personen und Kulturen verständlich ist.

Ist es sinnvoll, Hellingers Konzepte von „Gewissen“ und „Seele“ für Familiensysteme direkt oder analog auf Organisationssysteme zu übertragen? Wir kommen später auf die Bedeutung der Kultur einer Organisation als identitäts- und bindungsstiftendes Element zurück. Auf den ersten Blick könnte man Assoziationen zu Hellingers Gewissens- und Seelenvorstellung herstellen. Man sollte damit sehr vorsichtig sein. Aus unserer Sicht ist die Kultur einer Organisation etwas ganz anderes als das, was in Hellingers konzeptioneller Welt mit dem Familiengewissen oder der Familienseele gemeint ist.

Lesen Sie in den Beiträgen aus den vorangegangenen Monaten mehr über
die Konzepte und Methoden der Familienaufstellung!

 

Und vertiefen Sie Ihr Wissen:

Tapken, A. & Wübbelmann, K. 2021. Aufstellungsarbeit in Organisationen. Verlag Vahlen

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